Brexit und Schengen-Ende bedrohen EU-Wachstum

Der drohende Austritt der Briten aus der EU setzt schon jetzt das Pfund unter Druck. Auch dauerhafte Grenzkontrollen könnten der europäischen Wirtschaft Schäden in Milliardenhöhe zufügen.
Lange Zeit kannte die Entwicklung der EU nur eine Richtung. Das Gebiet der Gemeinschaft wuchs immer weiter, immer mehr Regeln wurden vereinheitlicht, immer tiefer ging die Zusammenarbeit, zwischen immer mehr Staaten fielen die Grenzkontrollen für Waren und Menschen weg. Die Finanzkrise gab der Entwicklung hin zu einer Bankenunion neuen Schub.
Doch plötzlich stottert der Motor der europäischen Einigung: Die Flüchtlingskrise hat die EU in eine tiefe Krise gestürzt, der „Schengen-Raum“ bröckelt. An vielen Grenzen gibt es – vorerst nur vorübergehend – wieder Kontrollen, Schlagbäume und lange Staus. Und das im Juni anstehende Referendum über ein Ausscheiden Großbritanniens („Brexit“) könnte zum Ergebnis haben, dass die zweitgrößte Volkswirtschaft aus der Gemeinschaft austritt und London damit nicht mehr zur EU gehören könnte.
Die Wahrscheinlichkeit eines Austritts Großbritanniens ist zumindest nach Einschätzung der US-Großbank Citi deutlich gestiegen. Nachdem sich prominente britische Politiker, darunter der äußerst populäre Londoner Bürgermeister Boris Johnson und Justizminister Michael Gove, für einen Austritt ausgesprochen haben, wird das Risiko eines „Brexit“ bei der Volksabstimmung am 23. Juni jetzt mit 30 bis 40 Prozent eingeschätzt. Die Auswirkungen eines „Brexit“ dürften politisch und wirtschaftlich sowohl für Großbritannien als auch die gesamte EU schmerzhaft ausfallen, schrieb Citi-Ökonom Michael Saunders.
„Dünner Schleim“
Premierminister David Cameron hatte zuvor um die Stimme Johnsons geworben. Seinen Ministern hatte er freigestellt, sich auf die eine oder andere Seite zu schlagen. Sechs Minister, darunter Gove, erklärten daraufhin, sich für einen Brexit einzusetzen. Cameron und die übrigen Staats- und Regierungschefs der EU hatten sich am Freitag nach langen Verhandlungen in Brüssel auf ein Reformpaket verständigt – doch Zeitungskommentare schmähten den Kompromiss postwendend als „dünnen Schleim“ („thin gruel“).
Auch die Allianz rechnet für den Fall des „Brexit“ zumindest kurzfristig mit einem Einbruch der Börsenkurse in London, einem erschwerten Zugang der Finanzbranche zum EU-Binnenmarkt und einem Rückfall des Landes in die Rezession. Während die langfristigen Folgen stark von den Details der späteren Beziehungen Großbritanniens zur EU abhingen, könnten andere Mitgliedsländer sogar vom „Brexit“ profitieren. Laut Prognose der DZ Bank würden sinkende Auslandsinvestitionen in Großbritannien, eine nachlassende Zuwanderung und ein gebremster Handel zu Wachstumsverlusten von insgesamt 14 Prozent bis zum Jahr 2030 führen – das käme einer Halbierung des durchschnittlichen Wirtschaftswachstums gleich.
An den Finanzmärkten drückten Spekulationen auf ein Ausscheiden Großbritanniens das Pfund auf ein Sieben-Jahres-Tief zum Dollar. Auch der Euro gewann gegenüber der britischen Währung deutlich und stieg zeitweise auf 0,7836 Pfund, nachdem er im November noch unter 0,70 Pfund notiert hatte. Während des Höhepunkts der Finanzkrise Ende 2008/Anfang 2009 war das Pfund allerdings noch deutlich schwächer und kaum mehr wert als einen Euro; noch Ende 2014 war es zum Euro billiger als heute – bevor im vergangenen Jahr der steile und jetzt abrupt beendete Aufstieg begann. Die Ungewissheit dürfte weiter auf dem Pfund lasten, sagte Elias Haddad, Stratege bei der Commonwealth Bank.
Bis zu 235 Milliarden
Bei einer dauerhaften Wiedereinführung von Grenzkontrollen in der EU drohen Deutschland und der gesamten EU einer Studie zufolge ebenfalls massive Wohlstands- und Wachstumseinbußen. „Allein für Deutschland wären bis zum Jahre 2025 Wachstumsverluste zu erwarten, die sich auf mindestens 77 Milliarden Euro aufsummieren“, hieß es in einer Untersuchung der Bertelsmann Stiftung. Unter pessimistischeren Annahmen (mit einem Anstieg der Importpreise um drei Prozent) könnten sich diese Verluste bei einem Ende des Schengen-Abkommens für einen kontrollfreien Grenzverkehr auf bis zu 235 Milliarden Euro addieren.
Frankreich würden 80,5 bis 244 Milliarden Euro entgehen. Für die gesamte EU errechneten die Experten Einbußen bis 2025 von 470 Milliarden bis zu 1,4 Billionen Euro. Hauptgrund für die Verluste wären Kosten- und Preissteigerungen durch die Wiedereinführung von Kontrollen an den europäischen Binnengrenzen, hieß es in den Berechnungen, die im Auftrag der Stiftung vom Institut Prognos erstellt wurden. Längere Wartezeiten bedeuten für die Unternehmen höhere Personalkosten. Zudem müssen die Lagerbestände erhöht werden, weil „just-in-time“-Lieferungen nicht mehr garantiert sind.
Auch außerhalb Europas bei den großen Handelspartnern USA und China würden neue Grenzen in Europa zu Milliardenverlusten führen. Angesichts dieser Zahlen warnte der Vorstandsvorsitzende der Bertelsmann Stiftung, Aart De Geus: „Wenn die Schlagbäume innerhalb Europas wieder runtergehen, gerät das ohnehin schwache Wachstum in Europa noch stärker unter Druck. Am Ende zahlen alle Menschen die Rechnung.“