Droht Europa ein ungeordneter Brexit?

Die Top-Wirtschaftsberater der Bundesregierung stellen der deutschen Konjunktur ein gutes Zeugnis aus.
Die „Wirtschaftsweisen“ warnen vor den möglichen Folgen des EU-Austritts Großbritanniens. Er rechne nicht nur mit einem „harten“ Brexit, also dem Ausscheiden des Landes aus dem europäischen Binnenmarkt, sondern sogar mit einem „ungeordneten“ Brexit, sagte Lars Feld, Mitglied des fünfköpfigen Sachverständigenrates und Professor für Wirtschaftspolitik in Freiburg. Denn da zielführende Verhandlungen erst nach der Bundestagswahl im Herbst beginnen könnten, blieben lediglich eineinhalb Jahre – und in dieser Zeit sei es kaum möglich, einen „vernünftigen Scheidungsvertrag“ zustande zu bringen. Ein solches Ende der EU-Mitgliedschaft ohne Abkommen hätte nach Felds Ansicht „gewaltige Auswirkungen“. Feld richtete einen „Appell an alle Beteiligten, sich vernünftig zu verhalten“.
Die britische Premierministerin Theresa May wird am 29. März offiziell die Scheidung einreichen. Danach sind Gespräche über eine Vielzahl von Themen notwendig, angeblich will die EU den Briten eine rund 60 Milliarden Euro schwere Abschiedsrechnung präsentieren. Ohne Einigung droht aber der wechselseitige Handel – in dem Deutschland einen hohen Exportüberschuss von zuletzt über 50 Milliarden Euro erzielt – schweren Schaden zu nehmen.
Auch protektionistische Tendenzen unter dem neuen US-Präsidenten Donald Trump trübten die Aussichten, warnte Feld. Der Sachverständigenrat sieht „ein Risiko für die Weltwirtschaft“: „Eine Infragestellung der Welthandelsorganisation (WTO) durch die Vereinigten Staaten würde das internationale Handelssystem aus den Angeln heben.“ Zudem sei die Krise der europäischen Währungsunion noch nicht gelöst, Wahlerfolge Euro-kritischer Parteien könnten deren Stabilität gefährden.
Trotz all dieser Risiken sei die deutsche Wirtschaft aber schwungvoll ins neue Jahr gestartet, so die „Wirtschaftsweisen“. Daher hoben sie ihre Konjunkturprognose leicht an: Für dieses Jahr rechnen sie nun mit einem Wachstum von 1,4 Prozent. Im kommenden Jahr soll die Wirtschaftsleistung um 1,6 Prozent steigen. Getragen wird der Aufschwung von der robusten Konjunktur im Inland und der weiterhin guten Lage am Arbeitsmarkt. 2016 war die deutsche Wirtschaft um 1,9 Prozent gewachsen, allerdings gab es mehr Arbeitstage als dieses Jahr.
Bofinger in der Minderheit
Die Mehrheit des Sachverständigenrates bezeichnete die Kritik vor allem der USA am deutschen Exportüberschuss als nicht stichhaltig. Die deutsche Wirtschaft sei nicht verpflichtet, sich schlechter zu machen, als sie tatsächlich dastehe. Der wachsende Leistungsbilanzüberschuss sei zeitlich begrenzt und durch die Politik der Europäischen Zentralbank (EZB), den demografischen Wandel und den Ölpreisverfall bedingt.
Dagegen hielt der „Wirtschaftsweise“ Peter Bofinger aus Würzburg stärkere Lohnerhöhungen – insbesondere durch den Staat als wichtigen Arbeitgeber – und staatliche Investitionsprogramme für notwendig. „Diese Analyse wird der Komplexität der Sache nicht gerecht“, kanzelte ihn der Vorsitzende des Sachverständigenrates, Christoph Schmidt, ab. Die Politik müsse sich aber fragen, „warum deutsche Unternehmen vergleichsweise viel im Ausland und nicht im Inland investieren“. Er fordert: Die Bundesregierung sollte die Attraktivität des Investitionsstandortes Deutschland steigern und nicht durch Gerechtigkeitsdebatten in Frage stellen – das würde den Überschuss langfristig abbauen. Bisher, widersprach Bofinger, sei von einem Abbau nichts zu sehen.
Die neue US-Regierung hatte den Ton zuletzt deutlich verschärft und Deutschland sogar Währungsmanipulation vorgeworfen. Diese Kritik sei „absurd angesichts der Unabhängigkeit der EZB“, meinte der Essener Wirtschaftsforscher; problematisch sei eher das permanente Leistungsbilanzdefizit der USA, das sie sich wegen des Privilegs des Dollars als Weltleitwährung leisten könnten. Schmidt warf Bofinger „Geschichtsvergessenheit“ vor: Schließlich sei durch die Lohnzurückhaltung der Tarifpartner die Arbeitslosigkeit in Deutschland reduziert worden. Bofingers Rezepte „würden dann die höheren Arbeitslosenquoten nachvollziehen, die wir sonst im Euroraum sehen“.
Kritik an EZB
Angesichts der Konjunkturerholung und einer Inflation von voraussichtlich 2,2 Prozent im laufenden Jahr forderte die „Wirtschaftsweise“ Isabel Schnabel aus Bonn ein baldiges Ende der ultralockeren Geldpolitik der EZB, die den Bankensektor belaste und zu Vermögenspreisblasen etwa bei Immobilien führen könne. Wenn die Notenbank die Wende noch länger hinauszögere, drohe sie „zum Gefangenen ihrer eigenen Politik“ zu werden. Sie müsse im Sommer den schrittweisen Ausstieg aus dem milliardenschweren Anleihe-Ankauf ankündigen und es zum Jahresende auslaufen lassen.
Erst an der Zinsschraube zu drehen sei dagegen der falsche Ansatz, sagte der „Wirtschaftsweise“ Volker Wieland, Geldtheoretiker aus Frankfurt. Denn bei den Anleihekäufen seien die Nebenwirkungen besonders problematisch.