Gaskrise offenbart das schmutzige Geheimnis der deutschen Energiewende

Der Ukraine-Krieg hat die Versäumnisse der deutschen Energiepolitik knallhart offengelegt. Um die Energieversorgung auch ohne russisches Gas zu sichern, gibt es kurzfristig kaum eine Alternative zu Kohle- und Atomstrom, schreibt Allianz-Chef-Volkswirt Ludovic Subran im Gastbeitrag. Doch mittel- und langfristig ist die klimaneutrale Energiewende der richtige Weg - und volkswirtschaftlich verlockend obendrein.
München - Die Gaskrise hat das schmutzige Geheimnis der deutschen Energiewende offenbart: Sie war vielleicht nicht auf Sand, aber auf russischem Gas gebaut, eine Wende von Putins Gnaden. Damit ist jetzt Schluss. Aber wie soll es weitergehen: Statt auf Gas jetzt auf andere „Schmuddelkinder“ der Energieerzeugung wie Kohle oder Kernenergie setzen – oder die Flucht nach vorne ergreifen, d.h. alles auf die Karte der Erneuerbaren und sauberen Energien setzen?
Die Regierung hat sich für letzteres entschieden und das Ziel ausgegeben, schon 2035 (und nicht erst 2045) die Stromerzeugung in Deutschland klimaneutral zu gestalten. Das erscheint auf den ersten Blick über-ambitioniert, ist aber tatsächlich der einzig sinnvolle Weg und verspricht schon mittelfristig hohen Gewinn.
Stimme der Ökonomen
Klimawandel, Corona-Pandemie, Ukraine-Krieg: Wohl selten zuvor war das Interesse an Wirtschaft so groß wie jetzt. Das gilt für aktuelle Nachrichten, aber auch für ganz grundsätzliche Fragen: Wie passen die milliarden-schweren Corona-Hilfen und die Schuldenbremse zusammen? Was können wir gegen die Klimakrise tun, ohne unsere Wettbewerbsfähigkeit aufs Spiel zu setzen? Wie sichern wir unsere Rente? Und wie erwirtschaften wir den Wohlstand von morgen?
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Kohle und Atomkraft Kurzfristig ja, langfristig nein
Natürlich wird es in der kurzen Frist, also in den beiden nächsten Wintern, nicht ohne Kohle gehen. Und auch mit Blick auf die Kernenergie wäre es sinnvoll, die verfügbaren Kapazitäten zur Abmilderung der aktuellen Energiekrise zu nutzen: In der Frage der Nicht-Abschaltung sollte die Regierung genauso viel Mut zeigen wie beim Ausbau der Erneuerbaren.
Aber mittel- bis langfristig sind beide Technologien nicht mehr wettbewerbsfähig, im Kostenvergleich zu den Erneuerbaren schneiden sie miserabel ab. Bei der Kernenergie ist dies offensichtlich, zumal auch die Frage der Endlagerung noch nicht geklärt ist.
Kohle: Achillesferse CO2-Preis
Aber auch Kohle hat eine entscheidende Achillesferse: den CO2-Preis des Europäischen Emissionshandels (ETS). Der liegt derzeit bei 80 bis 90 Euro und macht damit Kohle unattraktiv für die Verstromung; dafür müsste der Preis unter 60 Euro fallen – was aber kaum geschehen wird. Insofern wird auch die kurzfristige (subventionierte) Re-Animierung von Kohlekraftwerken nichts am geplanten Kohleausstieg ändern, Kohle wird eher früher als später aus dem Markt „gepreist“ werden.
Das ETS ist übrigens auch der Grund, warum es unsinnig ist, Klimaschutz gegen Energiesicherheit auszuspielen. Auch wenn wir jetzt wieder Kohlekraftwerke ans Netz nehmen, die CO2-Emissionen werden nicht steigen: Sie sind durch das ETS in Europa gedeckelt. Aber die Preise für CO2 werden steigen, so dass andere Teilnehmer am Emissionshandel ihre Emissionen reduzieren, anstatt teure Emissionsrechte zu erwerben.
Aus für Kohle- und Atomkraft setzt Vervierfachung der Kapazitäten bei Erneuerbaren voraus
Eine Renaissance der Kohle oder Kernenergie ist also wenig sinnvoll. Wie aber soll das Ziel der klimaneutralen Stromerzeugung bis 2035 erreicht werden? Schließlich impliziert dies eine Vervierfachung der bestehenden Kapazitäten an Erneuerbaren; zudem einen massiven Ausbau der Stromnetze; das Hochfahren der Wasserstoff-Wirtschaft; und last but least die Schaffung ausreichender Reservekapazitäten, wofür zum Beispiel auch die Kopplung von Millionen von Batterien von E-Autos mit dem Stromnetz infrage kommt. Fürwahr eine Mammutaufgabe also.
Schlüssel für den Erfolg sind eine integrierte Planung, die das gesamte System in den Blick nimmt, einschließlich dezentraler Speichersysteme wie Autobatterien, und die versprochenen schnelleren und einfacheren Genehmigungsverfahren. Dass letzteres möglich ist, zeigt die Bereitstellung und Anbindung eines schwimmenden LNG-Terminals ans Gasnetz in weniger als einem Jahr. In diesem Tempo muss es weiter gehen: Politik und Bürokratie müssen in den nächsten Jahren quasi im „Fluchtmodus“ verharren – und um nichts anderes als die „Flucht“ aus der selbstverschuldeten Abhängigkeit von russischem Gas geht es ja auch.
Wertschöpfungsturbo Energiewende
Der Preis der Freiheit ist dabei verlockend. Bei Verwirklichung der Ziele würde Deutschland erstmalig auf den 1,5-Grad-Pfad einschwenken. Damit ist das Weltklima zwar noch nicht gerettet, aber ein wichtiges Zeichen gesetzt. Auch zum Wohle der deutschen Wirtschaft: die erforderlichen Investitionen würden rund 40 Milliarden Euro zusätzliche Wertschöpfung generieren – ein Plus von einem Prozent des BIP; hinzu kommt knapp eine halbe Million zusätzlicher Arbeitsplätze. Rennen wir also los!
Zum Autor: Ludovic Subran ist Chef-Volkswirt der Allianz SE und von Allianz Trade/Euler Hermes. Vor seinem Eintritt in die Allianz Gruppe arbeitete er für renommierte Institutionen wie das französische Finanzministerium, die Vereinten Nationen und die Weltbank. Er unterrichtet außerdem Wirtschaftswissenschaften an der HEC Business School.